Der folgende Artikel wurde von unserer Kanzlei am 8. März 2008 und damit vor den spanischen Parlamentswahlen des damaligen Jahres erstellt. Aus gegebenem Anlass, aufgrund der am 26. Juni 2016 anstehenden Neuwahlen, haben wir uns entschieden ihn erneut auf unsere Seite zu stellen, schildert er doch trotz aller politischen Veränderungen, das nach wie vor geltende spanische Wahlrecht.
Fünfzehn Jahre mussten vergehen bis in Spanien erneut eine Fernsehdebatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten der beiden grossen Volksparteien abgehalten werden konnte. Bis vor zwei Wochen waren daher zuletzt José María Aznar und Felipe Gonzalez im Jahre 1993 aufeinandergestossen, um möglichst medienwirksam um die Gunst der Wähler zu werben. Umso grösser waren deshalb die Erwartungen, als nicht nur eine sondern gleich zwei Debatten, nämlich jeweils für den 25. Februar und 3. März, zwischen Mariano Rajoy (PP) und José Luis Rodriguez Zapatero (PSOE) angekündigt wurden. Wie bereits von zahlreichen Experten prognostiziert, erzielten beide Liveübertragungen rekordverdächtige Einschaltquoten. Kurioserweise und trotz der Tatsache, dass die Ankündigung dieser Veranstaltungen bereits im Vorfeld auf breiteste Zustimmung stiess, unternahmen drei Parteien (Izquierda Unida, kurz: IU = Vereinigte Linke; Convergència i Unió, kurz: CiU = Konvergenz und Vereinigung und Partido Nacionlista Vasco, kurz: PNV = Baskische Nationalistenpartei) den Versuch, die Durchführung der Debatte vom Obersten Spanischen Gerichtshof – Senat für Verwaltungssachen (Tribunal Supremo – Sección Contencioso-Administrativa) höchstrichterlich unterbinden zu lassen.
Die Antragsteller vertraten die Ansicht, dass die Debatte und die für diese geschaltete, allgegenwärtige Werbung zu einer ungleichen Verteilung der Wähleraufmerksamkeit führen würde. Die beiden grössten Parteien Spaniens und deren Spitzenkandidaten erhielten auf diese Weise eine Plattform, die anderen Mitbewerbern ungerechtfertigterweise vorenthalten bliebe.
Der Eilantrag wurde zwar erwartungsgemäss von den drei Senatsrichtern einstimmig zurückgewiesen, doch er offenbart, dass es bei den für den 9. März bevorstehenden Wahlen nicht nur um die Frage geht, ob der nächste spanische Präsident Zapatero oder Rajoy heisst – auch wenn die internationale Presse nur dies zu interessieren scheint.
Aufgrund des anhaltenden Kopf-an-Kopf-Rennens beider Kandidaten stellt sich vielmehr die Frage, mit der Unterstützung welcher Parteien eine regierungsfähige Mehrheit gebildet werden könnte.
Die Struktur des spanischen Wahlsystems weist nämlich einige Besonderheiten auf, die dazu führen können, dass kleinere Parteien in Abhängigkeit von der geographischen Verteilung ihrer Wähler und damit letzten Endes unabhängig von der insgesamt erhaltenen Anzahl an Wählerstimmen, überpropertional viele Sitze im spanischen Parlament belegen.
Das spanische Wahlsystem
Die spanische Verfassung bestimmt in ihrem Artikel 68.1, dass sich das spanische Parlament aus 300 bis 400 Abgeordneten zusammensetzt. Die Festlegung auf eine konkrete Sitzzahl ergibt sich aber aus dem Allgemeinen spanischen Wahlregelungsgesetz (Ley Orgánica 5/1985, de 19 de junio, del Régimen Electoral General, kurz: LOREG), welches die Rahmenvorschriften der Verfassung ausführt. Hiernach beträgt wird die Anzahl der Sitze mit 350 festgelegt. Diese Zahl lässt sich wiederum auf das im Jahre 1976 durchgeführte Referendum zurückführen, in welchem – ein Jahr nach dem Tod des Diktators Franco – aufgefordet wurden, über das zukünftige politische System Spaniens abzustimmen. Dass zur Abstimmung gestellte 2-Kammer- System, bestehend aus Abgeordnetenhaus und Senat, sah für ersteres ein mit 350 Vokksvertretern besetztes Gremium vor. Jeder Abgeordnete sollte hierbei jeweils 100.000 Einwohner repräsentieren.
Problematisch war und ist jedoch die Frage, wie die Wahlkreise zu organisieren wären, aus denen diese 350 Abgeordneten hervorgehen sollten.
Aufgrund der starken historischen Bedeutung und Identität einzelner Territorien einerseits, und der teilweise sehr unterschiedlichen Bevölkerungsdichte andererseits, wurde ein Wahlkreismodell erarbeitet, das eine flächendeckende aber gleichzeitig proportionale parlamentarische Repräsentation sicherstellen sollte.
Jeder einzelnen der 50 spanischen Provinzen werden daher gemäss Artikel 162 LOREG zwei Mindestsitze zugewiesen (die zwei in Nordafrika liegenden Autonomen Städte Melilla und Ceuta erhalten jeweils einen “Grundsitz“). Auf diesem Wege wird eine Minimalrepräsentation aller 52 Territorien sichergestellt.
Von den ursprünglichen 350 Sitzen verbleiben daher noch 248 Sitze, die abhängig von der jeweiligen Bevölkerungszahl innerhalb der einzelnen Provinzen oder autonomen Städte nach dem in Artikel 162.3 LOREG geschilderten Hare-Niemeyer-Verfahren verteilt werden.
Wie werden die freien Sitze auf die Wahlkreise verteilt?
Für die Bestimmung der Gesamtsitze jedes Wahlkreises muss zunächst die Einwohnerzahl Spaniens durch die Anzahl der verbliebenen freien Sitze (248) geteilt werden.
Auf diese Weise wird die sogenannte “Verteilerquote“ ermittelt.
Jeder Wahlkreis erhält dann soviele Sitze, wie sich daraus ergeben, dass man die Einwohnerzahl des Wahlkreises durch die ermittelte “Verteilerquote“ dividiert. Es werden jedoch für das Ergebnis nur ganze Zahlen herangezogen.
Da bei der Verwendung ganzer Zahlen Sizte übrigbleiben, werden diese unter den Wahlkreisen in der Art verteilt, dass diejenigen, die gemäss der oben beschriebenen Rechnung die höchsten Dezimalstellen erreichen, also die höchsten Nachkommastellen haben (es wird wie ausgeführt zunächst nur in ganzen Zahlen gerechnet), jeweils einen der verbliebenen Sitze erhalten.
Hierzu ein Beispiel:
Laut den letzten Hochrechnungen des Jahres 2007 hat Spanien 45.200.737 Einwohner.
Wenn wir diese Zahl durch 248 teilen ergibt sich eine “Verteilerquote“ von 182.261,03.
Im Falle von Murcia wäre dann deren Einwohnerzahl (1.392.117) durch die Verteilerquote (182.261,03) zu dividieren.
Das Ergebnis wäre: 7.63
Dies bedeutet, dass Murcia neben den zwei Ausgangssitzen sieben weitere zustehen (es werden nur ganze Zahlen verwendet).
Insgesamt hätte Murcia dann 9 Sitze.
Da nach Anwendung dieses Verteilersystems am Ende einige der 248 Sitze übrig bleiben, werden diese wie beschrieben unter den Wahlkreisen verteilt, die die höchsten Dezimalstellen erreichten.
Murcia gehört wegen dem Ergebnis von 7.63 zu dieser Gruppe und erhält aufgrund dessen einen weiteren Sitz.
Deshalb werden im Ergebnis im nächsten spanischen Parlament 10 Abgeordnete aus Murcia stammen.
Für die anstehenden Wahlen sieht die Gesamtverteilung der Sitze nach Wahlkreisen wie folgt aus:
Álava 4 · Albacete 4 · Alicante 12
Almería 6 · Asturias 8 · Ávila 3
Badajoz 6 · Balearen 8 · Barcelona 31
Burgos 4 · Cáceres 4 · Cádiz 9
Cantabria 5 · Castellón 5 · Ceuta 1
Ciudad Real 5 · Córdoba 6 · Coruña 8
Cuenca 3 · Girona 6 · Granada 7
Guadalajara 3 · Guipúzcoa 6 · Huelva 5
Huesca 3 · Jaén 6 · León 5
Lleida 4 · Lugo 4 · Madrid 35
Málaga 10 · Melilla 1 · Murcia 10
Navarra 5 · Ourense 4 · Palencia 3
Palmas (Las) 8 · Pontevedra 7 · Rioja (La) 4
Salamanca 4 · Tenerife 7 · Segovia 3
Sevilla 12 · Soria 2 · Tarragona 6
Teruel 3 · Toledo 6 · Valencia 16
Valladolid 5 · Vizcaya 8 · Zamora 3
Zaragoza 7
Wie werden die Sitze eines Wahlkreises unter den Kandidaten verteilt?
Innerhalb eines Wahlkreise werden die Sitze unter den Parteien gemäss Artikel 163 LORED nach einer vom holländischen Mathematiker D’Hondt entwickelten Regel verteilt:
Alle Wahlvorschläge, die weniger als 3 % der Stimmen erzielt haben, bleiben unberücksichtigt. Man könnte daher durchaus von einer “3 % Hürde“ sprechen.
Anschliessend werden die übrigen Kandidaten in einer Tabelle nach erhaltener Stimmenzahl (absteigend) geordnet.
Dann werden die erhaltenen Stimmen durch 1, 2, 3, etc. (entsprechend der im Wahlkreis zu vergebenen Sitze) geteilt und in der Tabelle eingetragen.
Die Sitze werden unter den jeweils höchsten Werten verteilt.
Hierzu ein Beispiel:
In einem Wahlkreis wurden 480.000 gültige Stimmen abgegeben.
In diesem Wahlkreis sind 8 Sitze zu vergeben.
Sechs Wahlvorschläge überwinden die 3 % Hürde.
Wahlvorschlag A erzielt 168.000 Stimmen Wahlvorschlag B erzielt 104.000 Stimmen Wahlvorschlag C erzielt 72.000 Stimmen Wahlvorschlag D erzielt 64.000 Stimmen Wahlvorschlag E erzielt 40.000 Stimmen Wahlvorschlag F erzielt 32.000 StimmenIn einer Tabelle würde dies wie folgt aussehen: | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Wir gehen von den erfolgreichsten Wahlvorschlägen aus, und verteilen die Sitze nacheinander in absteigender Reihenfolge.
In der vorstehenden Tabelle erhält Wahlvorschlag A mit 168.000 Stimmen den ersten Sitz.
Der zweithöchste Wert nach 168.000 ist in der Tabelle 104.000. Dieser gehört zu Wahlvorschlag B. B erhält den zweiten Sitz.
Der dritthöchste Wert nach 168.000 und 104.000 ist 84.000. Dieser gehört zu Wahlvorschlag A. A erhält den dritten Sitz.
Wenn man diese Regel für jeden der zur Verfügung stehenden acht Sitze anwendet, ergibt sich folgendes Resultat:
Wahlvorschlag A = 4 Sitze
Wahlvorschlag B = 2 Sitze
Wahlvorschlag C = 1 Sitz
Wahlvorschlag D = 1 Sitz
Wahlvorschlag E = 0 Sitze
Wahlvorschlag F = 0 Sitze
Folgen oder Auswirkungen dieses Wahlsystems
a.) Kleine Wahlkreise mit geringer Sitzzahl führen zu einer in Wirklichkeit viel höheren Zugangsbeschränkung als die 3 % Hürde.
Dort wo beispielsweise nur drei Sitze vergeben werden, kann selbst eine Partei mit relativ hohem Stimmenanteil keinen einzigen Abgeordneten stellen, wenn die grossen Volksparteien erfolgreich abschneiden.
b.) Wahlkreise mit geringer Bevölkerung verfügen durch die zwei Basissitze, mit denen alle Provinzen versehen sind (ein Sitz in den autonomen Städten) im Verhälnis zu den bevölkerungsreichsten Provinzen über ein ungleiches Bevölkerungs- / Sitzverhältnis.
Madrid verfügt bei dieser Wahl über 35 Sitze, welche sich auf 6.081.689 Einwohner verteilen. Dies bedeutet, dass 173.762 Einwohner für einen Sitz stehen.
In Guipúzcoa (Provinz innerhalb des Baskenlandes) enfallen hingegen 7 Sitze auf 694.944 Einwohner. Auf jeden Sitz kommen daher nur 99.277 Einwohner.
Hierdurch werden Regionalparteien, die sich grossen Zuspruchs innerhalb eines kleinen Territoriums erfreuen, im Abgeordnetenhaus deutlich bevorzugt.
c.) Kleine Parteien, die zwar in ganz Spanien antreten, aber keine geographische Wählerkonzentration vorweisen können, erhalten im Verhältnis zu den in Gesamtspanien erzielten Stimmen nur wenige Abgeordnetensitze.
Bestes Beispiel hierfür ist die Linkspartei Izquierda Unida (“IU“).
Obwohl diese bei den Abgeordnetenwahlen des Jahrs 2000 über ganz Spanien verteilt fast 1.300.000 Stimmen erhielt, entfielen auf sie letzten Endes nur 8 Sitze.
Im Kontrast hierzu steht die katalanische Partei Convergència i Unió. Diese konnte sich bei den gleichen Wahlen mit gerade einmal knapp 965.000 Stimmen immerhin 15 Sitze sichern.
d.) Wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Mariano Rajoy und José Luis Rodriguez Zapatero betrachtet und vor Augen führt, dass bei praktisch allen vorliegenden Umfragen die Stimmen der Befragten gleich gewichtet wurden (d.h. eine Person = eine Stimme), wird sehr schnell klar wie gross der Faktor des oben beschriebenen Verhälniswahlrechts die Wahl zu Gunsten des einen oder anderen bestimmen kann.
Ein kleiner prozentualer Vorsprung muss daher noch lange nicht bedeuten, dass die Wahl entschieden ist.
Es kommt vielmehr darauf an, woher diese Stimmen kommen.
Insgesamt lässt sich daher nur sagen, dass sich im jetzigen Zeitpunkt noch nichts über der Ausgang der Wahl sagen lässt, und dass der Erfolg der kleinen Parteien – insbesondere der Regionalparteien – wesentlich beeinflussen wird, wer in wenigen Tagen aus den Präsidentschaftswahlen siegreich hervorgeht.